Es ist der 9. November 2022. Ein Tag, an dem wir an die Reichspogromnacht erinnern. „Eine Nacht, die vor 84 Jahren während der Herrschaft der Nationalsozialisten stattfand und von der aus eine Welle von unbändigem Hass, von mutwilliger Zerstörung und willkürlicher Gewalt gegen unschuldige Menschen ausging, die dann über ganz Deutschland hinwegrollte“, sagte Bürgermeister Dr. Ralph Elster während einer Gedenkstunde am Löwenbrunnen.

Diese wurde veranstaltet vom Lern- und Gedenkort Jawne unter der Leitung von Rainer Lemaire. Schüler des Schillergymnasiums, der Liebfrauenschule, der Königin-Luise Schule und des Gymnasiums Rodenkirchen beteiligten sich mit Beiträgen an dem Gedenken. Zudem haben Mitglieder des Arbeitskreises Jawne ebenso teilgenommen wie Mitglieder der Synagogengemeinde.

Vor dem Brunnen sprach Bürgermeister Dr. Ralph Elster zu den Schülerinnen und Schülern.

Dr. Ralph Elster betonte: „Aus heutiger Sicht, zumindest geht es mir so, ist es ja immer noch kaum vorstellbar, wie sich damals Massen vermeintlich ganz normaler Menschen durch perfiden Macht- und Medienmissbrauch der Nazis in einem kaum vorstellbaren Maße manipulieren ließen.“

Auch in Köln habe jeder die brennenden Synagogen gesehen und die Angriffe auf die jüdischen Nachbarn und Bekannten mitangesehen. „Fast alle Menschen sahen diesem Treiben zu – ohne zu widersprechen, ohne den Betroffenen zu helfen. Statt ihm Einhalt zu gebieten, fand der Mob vielerorten sogar noch Zulauf von zunächst unbeteiligten Menschen, die die Nazis bei ihren ruchlosen Zerstörungen und Plünderungen auch noch unterstützten“, so der Bürgermeister weiter.

Erinnerung darf niemals ausgelöscht werden

Diese Gräueltaten, diese schlimmen Verbrechen an den jüdischen Mitmenschen dürfen nicht vergessen werden. Daher sind solche Gedenkveranstaltungen so überaus wichtig. „Liebe Schülerinnen und Schüler, Ihr zeigt mit Eurer Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung, durch den von Euch absolvierten Workshop und durch Eure Beiträge, dass Ihr Euch mit diesem schwierigen Thema befassen wollt, dass Euch das Wissen um dieses düstere Kapitel unserer Vergangenheit wichtig ist“, betonte Dr. Ralph Elster. Und weiter: „Ihr gebt damit ein wirkungsvolles Zeichen in unsere Stadtgesellschaft hinein. Ihr zeigt, dass sich junge Menschen auch heute im 21. Jahrhundert mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus auseinandersetzen wollen und dass die Erinnerung daran niemals ausgelöscht werden darf.“

Zum Schluss seines Rede mahnte Dr. Ralph Elster die Anwesenden: „Wir alle müssen in unserem täglichen Leben wachsam sein gegen Hass, Intoleranz und zügellose Gewalt. Ich wünsche uns allen, aber gerade auch Euch jungen Menschen in den anstehenden Zeiten immer genügend Mut und Kraft, in unserer Gesellschaft für Gerechtigkeit und Toleranz und für Menschlichkeit einzutreten.“

Die Rede im Wortlaut

Ich begrüße Sie und Euch ganz herzlich hier am Löwenbrunnen und überbringe gerne auch die Grüße des Rates der Stadt Köln und unserer Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

Am heutigen Tag, dem 9. November, erinnern wir an die Reichspogromnacht, die vor 84 Jahren während der Herrschaft der Nationalsozialisten stattfand und von der aus eine Welle von unbändigem Hass, von mutwilliger Zerstörung und willkürlicher Gewalt gegen unschuldige Menschen ausging, die dann über ganz Deutschland hinwegrollte.

Als ich Kind war, gab es noch allenthalben den Begriff „Reichskristallnacht“, ein schrecklicher Euphemismus, eine Schönzeichnung der schlimmen Gräueltaten, die in diesen Stunden fast überall in Deutschland an jüdischen Mitmenschen begannen wurden. Als ich das Wort zum ersten Mal hörte, habe ich mir etwas Schönes darunter vorgestellt: ein Reich voller funkelnder Kristalle. Doch dann wurde mir aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern und aus Berichten in den Medien Stück für Stück klar, worum es sich eigentlich damals gehandelt hat: um ein kollektives Versagen von Gemeinschaft und Staat, um flächendeckendes Verbrechen gegen die Menschheit und gegen alle Ideale, für die wir heute stehen.

Aus heutiger Sicht, zumindest geht es mir so, ist es ja immer noch kaum vorstellbar, wie sich damals Massen vermeintlich ganz normaler Menschen durch perfiden Macht- und Medienmissbrauch der Nazis in einem kaum vorstellbaren Maße manipulieren ließen.

Dr. Ralph Elster, Bürgermeister der Stadt Köln

Als Kind kann man solche Vorgänge zunächst gar nicht fassen, aber auch heute fällt es mir schwer zu verstehen, was in diesen Tagen um den 9. und 10. November 1938 in Deutschland passiert ist. Von den Nationalsozialisten wurden in unserem Land zahlreiche Menschen mehr oder weniger offen und völlig grundlos ermordet. Waren es 400 Opfer? Oder vielleicht sogar 1.500 ermordete Mitbürger? Die Angaben in unterschiedlichen Quellen differieren, in jedem Fall wird aber deutlich, in was für ein Chaos unser Land gestürzt worden ist, welches Ausmaß das Verbrechen auf den Straßen und Plätzen tatsächlich hatte.

Auch in Köln sah jeder brennende Synagogen

Am Ende waren deutschlandweit über 1.400 Synagogen zerstört, sowie Tausende Geschäfte und Privatwohnungen oder auch jüdische Friedhöfe und andere Einrichtungen. Zahllose jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden ohne Grund verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Nichts davon geschah heimlich. Niemand bemühte sich um allzu große Geheimhaltung, die Verbrecher versteckten sich nicht, sie agierten in den allermeisten Fällen ganz offen. 

Auch bei uns in Köln sah jeder die brennenden Synagogen und erlebte die Angriffe auf unsere jüdischen Nachbarn und Bekannten mit. Fast alle Menschen sahen diesem Treiben zu – ohne zu widersprechen, ohne den Betroffenen zu helfen. Statt ihm Einhalt zu gebieten, fand der Mob vielerorten sogar noch Zulauf von zunächst unbeteiligten Menschen, die die Nazis bei ihren ruchlosen Zerstörungen und Plünderungen auch noch unterstützten. Die jüdischen Menschen in Deutschland haben in diesen Tagen endgültig erkennen müssen, dass ihr Leib und Leben bei uns stark bedroht war, dass in unserem Land letztlich der Hass regierte, dass – offenbar durch den Nationalsozialismus befördert – zahlreiche Menschen zentrale ethische und moralische Werte völlig verloren hatten.

Aus heutiger Sicht, zumindest geht es mir so, ist es ja immer noch kaum vorstellbar, wie sich damals Massen vermeintlich ganz normaler Menschen durch perfiden Macht- und Medienmissbrauch der Nazis in einem kaum vorstellbaren Maße manipulieren ließen. 

Viele Betroffene versuchten, in der Folge der Pogrome ins Ausland zu fliehen, um sich zu retten. Leider wollten viele Länder ohne Weiteres keine Flüchtlinge aufnehmen. Viele jüdische Eltern wollten aber zumindest ihre Kinder in Sicherheit bringen und für sie die Auswanderung organisieren. Erich Klibansky, der letzte Direktor der Jawne, des damaligen jüdischen Gymnasiums, versuchte, den Familien zu helfen und es gelang ihm tatsächlich noch im Jahr 1939, 130 seiner Schülerinnen und Schüler in vier Gruppen von Köln aus nach Großbritannien zu bringen. Die Kinder wurden dadurch vor der weiteren Verfolgung in Deutschland und damit auch vor der mehr als wahrscheinlichen Deportation und Ermordung in einem der Konzentrationslager bewahrt. Die Kinder, die auf diese Weise gerettet wurden, mussten ihre Heimatstadt, sie mussten Köln und ihre Familien und ihre Freunde für diese Chance auf ein eigenbestimmtes Leben verlassen. Der Preis war also sehr hoch, sie gingen allein in ein fremdes Land und zu fremden Menschen und damit auch in eine ungewisse Zukunft. Die allermeisten, die damals entkamen, haben ihre Eltern und ihre Familie oder auch ihre Freunde nie wiedergesehen. Die Zurückgelassenen wurden fast alle Opfer der Nazi-Maschinerie, ebenso wie ihr Schuldirektor Erich Klibansky, der leider sein eigenes Leben und das seiner Familie nicht mehr zu retten vermochte.

Für uns alle ist es sehr wichtig, dass wir diese furchtbaren Ereignisse von 1933 bis 1945, diese schlimmen Verbrechen an unseren jüdischen Mitmenschen nicht einfach vergessen. Liebe Schülerinnen und Schüler, Ihr zeigt mit Eurer Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung, durch den von Euch absolvierten Workshop und durch Eure Beiträge, dass Ihr Euch mit diesem schwierigen Thema befassen wollt, dass Euch das Wissen um dieses düstere Kapitel unserer Vergangenheit wichtig ist. Ihr gebt damit ein wirkungsvolles Zeichen in unsere Stadtgesellschaft hinein. Ihr zeigt, dass sich junge Menschen auch heute im 21. Jahrhundert mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus auseinandersetzen wollen und dass die Erinnerung daran niemals ausgelöscht werden darf.

Mit dem Gedenken und der Aufarbeitung der Geschehnisse leisten wir alle einen wichtigen Beitrag dabei, dass sich ein solcher Wahnsinn niemals wiederholt. Das ist vor dem Hintergrund der zunehmend wieder offen agierenden rechtsradikalen und auch antisemitischen Strömungen in unserer Gesellschaft nur konsequent und überaus erforderlich. Auch aus einem anderen Grund ist es wichtig, die Erinnerung an diese schlimme Zeit nicht verblassen zu lassen, vor allem weil echte Zeitzeugen natürlich zunehmend weniger verfügbar sind.

Folgt man nämlich dem Sinn eines in diesem Zusammenhang oft zitierten jüdischen Sprichwortes, dann beginnt die Vergebung mit der angemessenen Erinnerung. Demgemäß wird eine gemeinsame Erinnerungskultur der Menschen in unserem Land zu einer der zentralen Grundlagen für eine gemeinsame Zukunft, egal welchen Glauben oder welche Herkunft der einzelne Mensch auch haben mag. Zu der Erinnerungskultur in Köln tragen unterschiedlichste Initiativen und Institutionen oder Orte bei. In diesem Zusammenhang denke ich nicht zuletzt an unserer NS-Dokumentationszentrum, ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bekanntes Museum, das vor allem auch als Bildungs- und Gedenkstätte fungiert.

Selbstverständlich spielt auch der Lern- und Gedenkort Jawne eine zentrale Rolle, der sich seit Jahren insbesondere dem Andenken an jüdische Kinder aus unserer Stadt widmet, die durch die Verbrechen der Nationalsozialisten um ihr Leben gebracht wurden. Mit den vielen ehrenamtlichen Mitarbeitenden wird an diesem Lernort hervorragende Arbeit geleistet, weil das Wissen über die jüdische Geschichte besonders auch an die heutige Jugend vermittelt wird.

Der Lernort trägt durch seine Projekte dazu bei, dass wir heute deutlich mehr wissen über das damalige deutsch-jüdische Schulleben in Köln, über die Lebensgeschichten der Schülerinnen und Schüler und ihrer jüdischen Lehrer. Gerade durch diese Lebensgeschichten erfahren wir, wie sich die Verfolgung durch die Nationalsozialisten konkret auf die einzelnen Menschen ausgewirkt hat. Wie ihr Leben eingeschränkt und bedroht wurde, wie schwer es war, der Gewalt und Ausgrenzung zu entkommen.

Wenn wir die damaligen Ereignisse rückblickend betrachten, sehen wir, dass es viel zu wenige Menschen gab, die für ihre verfolgten und bedrohten Nachbarn und Bekannten oder für ihre Freunde und Mitschüler eingetreten sind. Fast niemand hat den so Bedrängten geholfen. Ich denke, dieses kollektive Wegsehen, dieses Übersehen und Verdrängen allgegenwärtiger Gewalt gegen unschuldige Mitmenschen muss uns eine Lehre sein und soll uns zeigen, dass man mutig und hilfsbereit sein muss, wenn andere ungerecht behandelt werden. Dies gilt übrigens auch und gerade wieder bei den aktuellen weltpolitischen Entwicklungen.

Wir alle müssen in unserem täglichen Leben wachsam sein gegen Hass, Intoleranz und zügellose Gewalt. Ich wünsche uns allen, aber gerade auch Euch jungen Menschen in den anstehenden Zeiten immer genügend Mut und Kraft, in unserer Gesellschaft für Gerechtigkeit und Toleranz und für Menschlichkeit einzutreten.