Ein Feigenbaum, bei dem jede Frucht für einen möglichen Lebensweg, eine mögliche Zukunft steht, ist das wiederkehrende Motiv in den Arbeiten der jungen Künstlerin Donja Nasseri. Als Preisträgerin des Chargesheimer-Stipendiums für Medienkunst 2022 zeigte sie ihre aktuellen Werke unter dem Titel „Durst“ in der artothek – Raum für junge Kunst in Köln.

„Die Werke von Donja Nasseri mit ihrer sehr eigenwilligen und originären künstlerischen Handschrift, die eine Verbindung schafft zwischen neuartigen fotografischen Prozessen einerseits und traditioneller Formensprache und Symbolik andererseits, haben die Jury überzeugt“, betonte Bürgermeister Dr. Ralph Elster in seinem Grußwort zur Vernissage. Gleichzeitig werfe die Künstlerin mit ihrer Arbeit drängende, gesellschaftsrelevante Fragen auf, „die sich mit Begriffen wie Moral, Konvention oder Ideologie, Geschlechterklischees, Rollenbildern, aber auch der multikulturellen Gesellschaft auseinandersetzen“.

Preise und Nominierungen

Donja Nasseri, geboren 1990, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Sie studierte an den Kunstakademien Münster und Düsseldorf und war als Artist in Residence in Schweden und Österreich. Bereits seit 2013 stellt sie regelmäßig aus und kann inzwischen auf eine lange Liste von gewonnenen Preisen und Nominierungen blicken.

Ihre gegenwärtige Ausstellung „Durst“ ist von dem Buch „Die Glasglocke“ (1963) von Sylvia Plath inspiriert. Die innere Unruhe im Spannungsfeld mit dem von Außenstehenden manifestierten gesellschaftlichen Druck setzt Donja Nasseri in Bezug zum Lebensraum Schule, denn gerade im Schulalter würden junge Menschen „sich formen und geformt werden“, so die Künstlerin.

Bürgermeister Dr. Ralph Elster stellte wiederum den Bezug zur Ausstellung her: „Das ist ein gutes Stichwort, denn auch Kunst wird geformt genauso wie auch Künstlerinnen und Künstler formen aber letztlich auch geformt werden, wie zum Beispiel durch Ausstellungen wie diese hier heute Abend in der artothek.“

Der Sozialdienst Katholischer Männer

Der Kölner „Sozialdienst Katholischer Männer e.V.“ (SKM) ist Träger von über 70 ambulanten und stationären Einrichtungen und Diensten auf den Gebieten der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie der Gesundheits- und Integrationshilfe. Er erbringt „Hilfen für Menschen, die Armut, soziale Nachteile und Ausgrenzung erfahren, deren gesellschaftliche Teilhabe behindert oder gefährdet ist. Alles unabhängig von ihrer Herkunft, Religion und ihrer sexuellen Orientierung.“

Mit rund 750 beruflich und 450 ehrenamtlich tätigen Mitarbeitenden setzt er sich für die individuellen Bedürfnisse und Bedarfslagen unterschiedlicher Zielgruppen ein. Zusätzlich bietet er für alle Lebensbereiche zusätzlich umfassende Beratungs- und Unterstützungsangebote sowie komplexe Hilfeleistungen.

Die Rede im Wortlaut

Liebe Frau Nasseri,
liebe Frau Bardenheuer (Gastgeberin),
sehr verehrte Jury-Mitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste.

Zunächst darf ich Sie alle sehr herzlich im Namen von Rat und Verwaltung der Stadt Köln und unserer Oberbürgermeisterin Henriette Reker zur heutigen Vernissage von Donja Nasseri, der Preisträgerin des Chargesheimer-Stipendiums für Medienkunst 2022, hier in der artothek begrüßen.

Liebe Donja Nasseri, ich freue mich sehr, dass wir heute Einblick in Ihr künstlerisches Schaffen als Stipendiatin des Chargesheimer-Preises nehmen können. Einmal mehr sind wir mit der Präsentation des Chargesheimer-Medienstipendiums in der artothek zu Gast und ich möchte mich sehr bei Frau Bardenheuer und ihrem Team sowie bei Frau Maida vom Kulturamt bedanken, dass wir diesen schönen Anlass heute Abend so angemessen begehen können.

Weg in die berufliche Selbstständigkeit

Die vergangenen Jahre haben uns allen sehr deutlich veranschaulicht, wie schwierig es für Kulturschaffende ist, wenn Ausstellungen, Performances und Auftritte plötzlich nicht mehr möglich sind, wenn Finanzierungen wegbrechen und der künstlerische Resonanzraum fehlt. Gerade in solchen Zeiten sind Künstlerstipendien ein – wie wir ja in NRW mittlerweile sehr gut beurteilen können – sehr probates Mittel, diesen gerade für unsere Stadt so wichtigen Gesellschafts- und auch Wirtschaftsbereich einigermaßen zu stabilisieren.

Ein anders gelagerter, aber für Köln ebenfalls sehr wichtiger Förderschwerpunkt sind unsere städtischen Förderstipendien, mit denen wir junge Künstlerinnen und Künstler fördern und sie dabei ein Stück weit auf ihrem Weg in die berufliche Selbstständigkeit unterstützen.

Das Stipendium, das heute im Fokus steht und den Namen des wunderbaren Kölner Fotografen und Künstlers der Nachkriegszeit, Karl-Heinz Chargesheimer, trägt, ist ausgerichtet auf die Gattungen Fotografie, Video bzw. Videoinstallation, elektronische Medien und Sound.

Eigenwillige künstlerische Handschrift

Die Werke von Donja Nasseri mit ihrer sehr eigenwilligen und originären künstlerischen Handschrift, die eine Verbindung schafft zwischen neuartigen fotografischen Prozessen einerseits und traditioneller Formensprache und Symbolik andererseits, haben die Jury überzeugt. Die letztliche Auswahl eines Preisträgers/einer Preisträgerin ist bei unseren städtischen Stipendien ganz sicher nicht ganz einfach, die hohe Bewerberdichte und vor allem die hohe Qualität der Arbeiten macht den Jurymitgliedern in unserer Kulturstadt die Arbeit nicht leicht.

Daher geht auch ein ganz herzliches Dankeschön an die Sachverständigen-Jury, an Phil Collins, Heide Häusler, Leonie Radine und Karen Zimmermann (die Vorjahresstipendiatin), die die zahlreichen Bewerbungsunterlagen gesichtet und am Ende die in meinen Augen sehr gute gemeinsame Entscheidung mit der Gesamtjury getroffen haben.

Drängende, gesellschaftsrelevante Fragen

Inhaltlich ruft die Arbeit von Donja Nasseri drängende, gesellschaftsrelevante Fragen auf, die sich mit Begriffen wie Moral, Konvention oder Ideologie, Geschlechterklischees, Rollenbildern, aber auch der multikulturellen Gesellschaft auseinandersetzen. Die Künstlerin bringt übersehene historische Biografien und gleichzeitig persönliche Geschichten ans Licht. In all ihrer formalen Stringenz ist die Arbeit von Donja Nasseri aber auch von einer höchst persönlichen Stimmung durchdrungen. Das werden wir auch im Rahmen ihrer heutigen Ausstellung spüren und erfahren können.

Liebe Frau Nasseri, Sie haben erzählt, dass Ihre gegenwärtige Ausstellung „Durst“ von dem Buch „Die Glasglocke“ inspiriert ist, das die amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath 1963 geschrieben hat. Ein zentrales Motiv in diesem Roman ist ein Feigenbaum, dessen Früchte jeweils für einen möglichen Lebensweg oder eine Lebensform stehen. Die verschiedenen Feigen repräsentieren also verschiedene Wege, zwischen denen man wählen kann – und je nach Wahl verändert sich die Lebensstruktur. Jede mögliche Zukunft lockt also wie eine Frucht.

Zerrissen zwischen zu vielen Möglichkeiten

Trotz des Überangebotes an Feigen und damit auch an Optionen für das weitere Leben, ist es Ester Greenwood, der Protagonistin im Buch, beinahe unmöglich, sich zu entscheiden. Als Gewinnerin eines Schreibwettbewerbs erhält sie besondere Möglichkeiten – Chancen, von denen andere junge Menschen nur träumen können. Aber dennoch findet die 19-Jährige in ihrem Umfeld, in der amerikanischen High Society, keinen Platz.

Sie fühlt sich nicht zugehörig und entfernt sich gleichzeitig immer weiter von sich selbst. Wie in einer Glasglocke beobachtet die tragische Romanheldin das tosende Geschehen um sich herum, entzieht sich ihrer Umgebung immer mehr – und spürt dennoch den gesellschaftlichen Druck, der die Luft in der Glasglocke immer dünner werden lässt…

„Die Glasglocke“ selbst ist nicht nur ein trauriger, zum Teil autobiographischer Roman, auch die Geschichte hinter dem Roman ist sehr bewegend und das Buch wurde in den 1970er Jahren zu einem Kultbuch. Die Zerrissenheit seiner Protagonistin im Spannungsfeld der gesellschaftlichen Anforderungen traf die Stimmungslage vieler Frauen und trug dazu bei, dass die Autorin postum zu einer Ikone der Frauenbewegung wurde.

Druck beginnt in der Schulzeit

Liebe Frau Nasseri, Ihr Ausstellungstitel „Durst“, so sagen Sie selbst, zielt auf die innere emotionale Unruhe ab, die stetig gestillt werden möchte. Dieser innere Druck, der nach Befriedigung verlangt, stehe – wie Sie sagen – dem von Außenstehenden manifestierten gesellschaftlichen Druck entgegen, der behauptet, gewisse Zukunftsvisionen oder Lebenspläne müsse man frühzeitig haben, anfertigen und verfolgen.

Dass dieser Druck bereits in der Schulzeit beginnt, daran erinnern wir uns alle gut oder sehen es heute verstärkt an unseren Kindern, und dies unterstreicht Donja Nasseri in den hier gezeigten Arbeiten. Sie lässt diesen prägenden Lebensraum „Schule“ in ihre Serie von Fotocollagen einfließen. Objekte wie Stühle, eine Schultafel oder Notizhefte tauchen darin auf, die sie mit verschiedenen Verwesungszuständen eines Feigenastes in Verbindung setzt.

Hinzu kommen Zitate aus dem Text von Sylvia Plath, die fragmentarisch in die Fotocollage integriert werden, wie beispielsweise „Bloß, weil ich mich nicht entscheiden konnte, welche Feige ich nehmen sollte“ oder „Ich sah mich in der Gabel dieses Feigenbaums sitzen und verhungern“.

Fotoserie und Videocollage

Zu der Fotoserie – liebe Besucherinnen und Besucher – gibt es noch eine Videocollage zu sehen, die Jugendliche aus der 9. Klasse der Montessori Gesamtschule in Düsseldorf zeigt. Bilder, die die Jugendlichen beim Verweilen zeigen, werden in Verbindung mit Textpassagen gebracht. Die Arbeit zielt darauf ab, so Donja Nasseri, dass junge Menschen besonders im Schulalter „sich formen und geformt werden“. Das ist ein gutes Stichwort, denn auch Kunst wird geformt genauso wie auch Künstlerinnen und Künstler formen aber letztlich auch geformt werden, wie z.B. durch Ausstellungen wie diese hier heute Abend in der artothek.

Liebe Frau Nasseri, ich wünsche Ihnen für Ihren weiteren beruflichen Werdegang von Herzen alles Gute und hoffe, dass Sie in den kommenden Jahren möglichst die Freiräume finden, mit denen Sie Ihre künstlerische Arbeit so weiterentwickeln können, wie Sie es sich vorstellen. Ihrer Ausstellung in der artothek wünsche ich eine gute Resonanz und uns allen noch einen schönen, gemeinsamen Abend.